Person nutzt zentrale Datensammlung auf Tablet
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Chance der Digitalisierung

Zentrales Datenset zur Vereinfachung der Unternehmens­gründung

Deutschland steckt im Digitalisierungs­stau. So weit, so bekannt. Mit der Ampel-Regierung hat sich Ende 2021 eine weitere Koalition auf den Weg gemacht, dies zu ändern. Mit den Grünen und der FDP sind zwei Parteien mit an der Macht, die lange keine Regierungs­verantwortung trugen, dafür aber vergleichsweise viel digitale Kompetenz haben. Daher besteht eine realistische Chance, dass sich in den kommenden Jahren tatsächlich etwas in Bezug auf digitale Innovation und digitale Infrastruktur verbessert.

Neben dem Mega-Thema Energiewende ist die Digitalisierung ein Bereich, der im Koalitionsvertrag mit dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ breiten Raum einnimmt. Dies sogar ausdrücklich auch für das Segment der Unternehmens­gründungen. Unter anderem will die Bundesregierung das Gründen vereinfachen und schneller machen. Das Ziel im Koalitionsvertrag lautet: „Unternehmens­gründungen in 24 Stunden ermöglichen“.

Für das Gründungsgeschehen in Deutschland ist das zunächst einmal eine gute Nachricht. Und zugegeben: „Gründen in 24 Stunden“ klingt ziemlich fluffig. Dennoch stellt sich die Frage, ob eine Unternehmens­gründung in 24 Stunden und die bisherigen Ansätze, um sie zu ermöglichen, überhaupt der richtige Weg sind. Im wahren Leben wäre es vielleicht schon hinreichend und ein Riesen-Fortschritt dazu, wenn sich die wichtigsten Formalitäten innerhalb mehrerer Tage erledigen ließen. 

Wären die Reform-Ressourcen von Politik und Verwaltung also an anderer Stelle besser eingesetzt? Dieser Artikel soll eine bislang unterschätze Alternative beleuchten. Unsere These: Viele Ressourcen könnten eingespart werden, wenn die Politik sich auf wenige, aber dafür zentrale Datenelemente und Schnittstellen konzentrieren würde. 

Bürokratie­dschungel im Gründungs­prozess in Deutschland

Im Koalitionsvertrag stellt die 24-Stunden-Gründung ein Element für den Bürokratieabbau dar. Erreicht werden soll die Beschleunigung durch „flächendeckende [...] Anlaufstellen für Gründungsberatung, -förderung und -anmeldung“. Mutmaßlich werden hier auch die schon länger laufenden Digitalisierungs­­bestrebungen im Rahmen des „Gesetzes zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungs­leistungen“ (Onlinezugangsgesetz – OZG) eine Rolle spielen. Das OZG verpflichtet Bund, Länder und Kommunen, bis Ende 2022 ihre Verwaltungs­leistungen über Portale auch digital anzubieten. Dabei soll der Grundsatz „Einer für alle“ (Efa) gelten: Prozesse, die in einem Bundesland pilotiert wurden, sollen von den anderen Ländern übernommen werden. Federführend für den Prozess der Gewerbeanmeldung arbeitet beispielsweise NRW an One-Stop-Shop-Lösungen.

Wer einmal Einblick gewonnen hat in die Komplexität von Abstimmungs­­prozessen im föderalen Deutschland, wird schnell erkennen, welch dicke Bretter hier zu bohren sind. Die Gefahr, dass am Ende mit viel Aufwand wenig Fortschritt erreicht wird, ist jedenfalls real.

Die öffentliche Hand könnte - übrigens nicht nur im Gründungsbereich - deutlich mehr bewirken, wenn sie ihre Rolle anders interpretieren würde: nicht um jeden Preis als Lieferant kompletter, monolithischer IT-Prozesse, sondern als Zentralstelle zur Definition von Schnittstellen und Datenstrukturen. Grundsätzlich auf offene System­architekturen mit Schnittstellen und einheitlichen Daten­strukturen zu setzen, würde marktgängige digitale Prozesse ermöglichen. Davon würde nicht nur der Staat profitieren, sondern vor allem auch Akteure, die Daten verarbeiten und diejenigen, die sie zur Verfügung stellen. Schauen wir nur einmal auf die Daten­strukturen: Im Rahmen jeder einzelnen Gründung werden von verschiedensten Anlaufstellen hunderte von Datenfeldern erhoben, die meisten davon – z. B. Unternehmensname und Adresse – doppelt bis vielfach.

Unsere These lautet deshalb: Mehr noch als die 24-Stunden-Gründung würde es zur Vereinfachung des Gründungs­­prozesses beitragen, wenn es ein definiertes Datenset gäbe, das die zentralen Angaben für die formale Gründung enthält und bundesweit einheitlich für die relevanten Prozesse vorgibt (Gewerbeanmeldung, Finanzamt u.ä.). Dieses zentrale Datenset ist realisierbar und stellt eine echte Chance für die Digitalisierung dar.

Voraussetzungen für die Verein­fachung der Unternehmens­gründung

In einer idealen Welt beschränkt sich die Datenerhebung bei den formalen Gründungsprozessen auf das unbedingt Nötige und vor allem: alles müsste nur einmal eingegeben werden. Wurden Stammdaten, gewünschte Rechtsform, geplante Anzahl von Personalstellen u. Ä. an irgendeiner Stelle einmal erfasst, sollten sie in digitale Folgeprozesse per offener Programmier­schnittstelle (API) vollautomatisch übergeben werden. Im Privatleben sind wir solche API-Prozesse lange gewohnt: Niemand denkt mehr darüber nach, was im Hintergrund abläuft, wenn beim Online-Shopping auch eine Bezahlfunktion von PayPal oder ähnlichen Anbietern eingebunden ist. Hier spielen Schnittstellen die Hauptrolle: Wer auch immer einen Bezahlvorgang in seine Prozesse integrieren will, kann diese Zahlungsanbieter mit ihren definierten und sicheren APIs anbinden.

Im Gründungsgeschehen sind wir hiervon meilenweit entfernt. Die aktuell geplanten Ansätze, auch im OZG-Zusammenhang, setzen darauf, dass der/die Gründer*in nach Abschluss der Planungsphase einen komplett neuen Prozess beginnt und vollständig durchläuft – inklusive häufiger Neueingabe aller relevanten Daten. Bezogen auf die Gründerplattform heißt das nichts anderes als „Zurück auf Los“. Zwar liegen dann die Unternehmensdaten zumindest teilweise auf der Gründerplattform vor, können aber eben nicht übergeben und weitergenutzt werden.

Lösung & Chance der Digitalisierung: Zentrales Datenset zur Verein­fachung des Gründungs­prozesses

Bereits im Jahr 2008 haben wir uns (damals noch als evers & jung) dieser Frage in einer Studie für das Bundeswirtschafts­ministerium gewidmet und ein „Leitmodell zur Optimierung der formalen Existenzgründungsverfahren in Deutschland“ erarbeitet. Unsere Studie lieferte eine belastbare Evidenz, die unsere These eines zentralen Datensets als sinnstiftender(er) Standardisierung­sansatz für die öffentliche Hand stützt.

Dieses Leitmodell enthielt einen Metadatensatz, der die Anzahl der Datenfelder für die formale Umsetzung einer Gründung von seinerzeit etwa 1.400 um 92 Prozent auf 116 Daten reduzierte. Dieses bundesweit anwendbare Gerüst wurde anschließend für die Referenzregion Hamburg auf insgesamt 226 Datenfelder vervollständigt. Alle zentralen Meldeverfahren (Gewerbe, Finanzamt, Betriebsnummer, Krankenkasse, Renten- und Unfallversicherung, Kammermitgliedschaft) und sogar handwerksspezifische Verfahren wie die Eintragung in die Handwerksrolle lassen sich mit diesem Datenset bewerkstelligen.

Raketen­wissenschaft betrieb unsere Studie dabei nicht, denn 

  • 61 Prozent der Vereinfachungen waren Ergebnis einer Aussortierung direkter Redundanzen (z. B. Adressdaten), 
  • weitere 12 Prozent kamen durch Harmonisierung synonymer Datenfelder (z. B. Gewinn/Überschuss/…) und 
  • nochmals 7 Prozent brachte die Entfernung überflüssiger Datenfelder ein, also Daten, die zwar erhoben, aber gar nicht verwendet werden.

Die Effekte dieser Daten­­sparsamkeit wären enorm: Anhand einer beispielhaften Gründung eines Tischlereibetriebes als Einzelunternehmung errechnete die Studie eine Reduktion der aufzuwendenden Zeit von ca. 95 Prozent und eine Reduktion des Kostenaufwandes von 45 Prozent. Für einen IT-Dienstleister als GmbH mit zwei Mitarbeitern betrug der Zeitaufwand 82 Prozent weniger und die Kostenersparnis erreichte bis zu 72 Prozent.

Für das Gründungs­­fördergeschehen wäre es ein epochaler Durchbruch, wenn ein potenter Akteur hier voranginge und ein allseits verwendbares Basis-Datenset für Gründungen in Deutschland definierte und durchsetzen könnte. Dies würde nicht zwingend bedeuten, dass diese Daten zentral erfasst und gehalten werden müssen. Ein formal etablierter Standard, vergleichbar einer DIN-Norm, gäbe aber allen Prozessgestaltern in Deutschland Richtung und Sicherheit. Dass die Sichtung und Bewertung der gesamten Datenerhebung gegenüber 2008 aktualisiert werden müsste, steht außer Frage. Aber an Relevanz hat der Ansatz unserer Studie in anderthalb Jahrzehnten keineswegs verloren. 

Fazit

Bei ihren Digitalisierungs­bemühungen für die Gründungsformalitäten in Deutschland setzt die Politik derzeit auf digitale One-Stop-Shops und einheitliche Prozesse für ihr plakatives Ziel der „Gründung in 24 Stunden“. Beispielhaft ist dies abzulesen an den Projekten zur Digitalisierung der Verwaltungsakte im Rahmen des Online-Zugangsgesetzes. Flankierend zu solchen Ansätzen könnte es jedoch eine sinnvolle Rolle des Staates sein, offene Schnittstellen oder ein einheitliches Datenset zu definieren. An Letzterem können sich Behörden und Softwarehäuser bedienen, wenn sie digitale Prozesse rund um die formale Gründung aufbauen. Effizienzgewinne gäbe es nicht nur auf ihrer Seite: Gründer*innen sparen ausweislich unserer Studie bis zu 95 Prozent ihrer Zeit und bis zu 72 Prozent der Kosten, wenn nur noch die notwendigen Daten erhoben werden – einheitlich und genau einmal. 

Mit diesem Lösungsvorschlag und den immer noch spannenden Erkenntnissen unserer Studie aus 2008 wird EVEREST versuchen, auch auf politischer Ebene eine Rolle zu spielen. Wir freuen uns daher auf Feedback und Anregungen zu diesem Artikel unter [email protected].

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bhp